Experimente wagen – im (Geld-) Kreislauf wirken

Jahresbericht 2019

"Seismograph der Gesellschaft"

Der Studienfonds wurde Anfang der 1970er Jahre unter dem Dach der GLS Treuhand gegründet. 1987 folgte der Fonds „Menschen in Not“ . Beide werden seit 2016 bzw. 2015 von Louise Wächter betreut, die bereits seit 18 Jahren in der GLS Treuhand arbeitet.

Wofür stehen die Fonds?

Louise Wächter: Der Fonds Menschen in Not unterstützt Menschen in verschiedensten Notlagen. Viele erfahren über Sozialarbeiter, Ärzte oder unsere Webseite von uns. Aus dem Studienfonds werden Menschen unterstützt, die eine Ausbildung oder Studium machen möchten und aus verschiedenen Gründen öffentlich nicht gefördert werden.

Die beiden Fonds sind eine Besonderheit in der GLS Treuhand. Warum?

Anders als in unserem normalen Förderbereich, können sich Privatpersonen an die Fonds wenden. Sie müssen also keine gemeinnützige Organisation sein. Außerdem vergeben wir aus den Fonds in der Regel Darlehen als Überbrückung für akute Krisen oder für das Studium.

Doch manche Menschen können kein Darlehen zurückzahlen. Hier geben wir aus dem Fonds Menschen in Not Geld als Geschenk. Dafür müssen jedoch die Bedingungen für die Mildtätigkeit im Sinne des § 53 Abgabenordnung (AO) erfüllt sein. Daher benötigen wir Unterlagen, die die Bedürftigkeit nachweisen.

Inwieweit spielt dabei auch Vertrauen eine Rolle?

Natürlich vertraue ich erstmal jedem. Mit Misstrauen würde ich an der falschen Stelle sitzen. Dennoch überprüfen wir die Angaben. In den allermeisten Fällen werden die Darlehen zuverlässig zurückgezahlt. Selten kommt es zu Fällen, die wir an Anwälte übergeben müssen. Da stehen wir in der Verantwortung, denn der Kreislauf muss bestehen bleiben. Wir geben den Menschen an den Rändern der Gesellschaft etwas und die geben es uns, wie sie es können, zurück. Da wir auch Gelder verschenken, sind wir auch auf Spenden von außerhalb angewiesen.

Haben sich die Bedürfnisse in den letzten Jahren geändert?

Die Art der Anfragen nicht, aber die Anzahl ist erheblich gestiegen. 2016 und 2017 waren es im Schnitt 25. 2019 waren es schon 162. Vielleicht ist der Bedarf gestiegen, vielleicht fallen mehr Menschen durch „das Raster“.

Die Bedürfnisse sind vielfältig. Familien, die nach einem Zuschuss für ein behindertengerechtes Auto fragen. Menschen, die eine nicht von der Kasse genehmigte Therapie benötigen. Oder Personen, die durch Schicksalsschläge wie Krankheit oder Flucht in Not geraten sind. Die Unterstützung wird oft für ganz alltägliche Dinge angefragt, wie zum Beispiel Winterkleidung für die Kinder.

Aber manchmal brauchen die Menschen auch gar kein Geld. Ein ausführliches Telefongespräch reicht oft schon als Hilfe. Den Menschen zuhören und ein paar Ermutigungen und Tipps geben, um das Leben wieder besser in den Griff zu bekommen, sind oft genauso wichtig wie Geld.

 

Interviewpartnerin

Reference

Interviewer

Sven Focken-Kremer

GLS Treuhand

Leiter Kommunikation

"Dass unserer staatliches Sozialsystem nicht lückenlos ist, wird in jedem Antrag erlebbar. Nur die Zivilgesellschaft oder einzeln Mitmenschen können dann helfen, weil diese „Fälle“ nicht ins System passen und starren Bürokraten gegenüberstehen."

Dr. Hermann Falk, Vorstandsmitglied der GLS Treuhand

Du wurdest schon einmal als Seismograph der Gesellschaft bezeichnet, der gesellschaftliche Schwingungen von außen aufzeichnet und nach innen leitet?

Das stimmt. In dem kleinen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, habe ich Menschen mit ihren Nöten, Krankheiten und auch Wohlstand kennenlernen können. Menschen interessieren mich einfach. Ich wende mich nicht ab, wenn jemand Hilfe benötigt. So hat sich ein Gespür für Menschen entwickelt.

Nach innen in die GLS Treuhand bringe ich diese Wahrnehmungen und die Anträge direkt zu Dr. Hermann Falk als Vorstandsmitglied und Zuständigen für den Fonds Menschen in Not. Wir besprechen die Fälle immer persönlich und sind uns fast immer einig. Da sind wir auf einer Ebene.

Wie gehst du persönlich damit um, wenn du von Schicksalsschlägen der Antragssteller*innen hörst?

Ich versuche das nach einiger Zeit aus meinem Kopf zu streichen. Das ist im Sinne des Datenschutzes auch gar nicht schlecht (lacht) und dient auch dem Selbstschutz. Manchmal, wenn ein Telefonat oder ein Brief doch ein bisschen unter die Haut gehen, hole ich mir einen Kaffee und spreche vielleicht kurz mit einer Kollegin oder einem Kollegen. Hier kommt es dann auch auf die eigene Resilienz an.

Wo wünschst du dir mehr Experimente?

Ich wünsche mir mehr Mut von unserer Gesellschaft, auf andere Menschen zuzugehen, die Hilfe brauchen. Ich kann nur raten, dieses Experiment zu wagen, es lohnt sich. Nikolai Fuchs (Vorstandsmitglied GLS Treuhand, Anm. der Red) sagte einmal in unserer wöchentlichen Berichtsrunde: „Jeder Mensch sollte wenigstens ein- bis zweimal am Tag von seinen Mitmenschen wahrgenommen werden.“

Nachgefragt

bei Dr. Hermann Falk, Vorstandsmitglied GLS Treuhand

Dr. Hermann Falk: Eines unserer Ziele ist es, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen und materiell bedürftigen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Viele sind nicht mehr „bankfähig“ und sitzen zwischen den Stühlen der verschiedenen Ämter, Krankenkasse etc. Dass unserer staatliches Sozialsystem nicht lückenlos ist, wird in jedem Antrag erlebbar. Nur die Zivilgesellschaft oder einzeln Mitmenschen können dann helfen, weil diese „Fälle“ nicht ins System passen und starren Bürokraten gegenüberstehen. Ein flexiblerer Gesetzesrahmen ist überfällig.

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Menschen in Not

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