Flucht und Engagement
Zwischen Hoffnung und Angst liegt eine Entscheidung. In Europa haben wir das große Glück, dass wir aus einer Vielzahl an Möglichkeiten eine Entscheidungen treffen können. Millionen von Menschen auf der Flucht weltweit haben diese Entscheidungsvielfalt nicht. Für diese Menschen ist Flucht oft die einzige Chance.
Wie steht es um Europas Werte an den europäischen Grenzen? Nicht gut, wenn man auf die Zustände in den "Flüchtlingslagern" blickt. Auch nicht gut, wenn man die Hilferufe privater Rettungsmissionen hört, die keine Erlaubnis zum Anlegen erhalten. Noch schlechter scheint die Lage, wenn die Menschen, die sich europäischen und humanen Werten verpflichtet sehen, von einigen Staaten dafür angeklagt werden. Besser sieht es jedoch aus, wenn ebendiese engagierten Menschen und die Zivilgesellschaft betrachtet werden.
Menschen, die einander helfen
Denn diese Menschen helfen einander, grenzüberschreitend und international. Gemeinnützige Vereine, Organisationen und Stiftungen. Durch Aktionen, Spenden, Berichte, Proteste und Einsätze vor Ort. Aber sie brauchen dringend weitere Unterstützung.
Warum flüchten Menschen? Wie geht es Menschen, die sich auf den gefährlichen Weg wagen? Wer rettet und mit welchen Mittel können wir alle dazu beitragen, eine Besserung herbeizuführen? Darum ging es auf der Veranstaltung der GLS Treuhand am 10. Juni 2021.
In Kürze: Videodokumentation der Veranstaltung Hintergrundgespräch mit Youssef Abdulmajid Gemeinsam helfen, gemeinsam ändern! Hintergrundinformationen zu Flucht/-ursachen
SOS - zivilgesellschaftliches Engagement gesucht
Wir sprachen mit:
- Youssef Abdulmajid, Arzt aus Syrien, seit 2015 in Deutschland
- Neeske Beckmann, seit vier Jahren auf Malta und Lampedusa für die Sea-Watch im Einsatz
- Erik Marquardt, Mitglied des Europäischen Parlaments, greens/EFA | BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Alexandra Zyzik, Stiftungsbetreuung, GLS Treuhand
- Sven Focken-Kremer (Moderation), Kommunikation, GLS Treuhand
Das ausführliche Hintergrundgespräch mit Youssef Abdulmajid sehen Sie hier
„Lebensbedrohliche Reise“ – Die Geschichte einer Flucht
Eigentlich würde Youssef Abdulmajid heute in seiner Arztpraxis arbeiten. Er würde mit seiner Frau und seinen drei Kindern im östlichen Zipfel von Syrien leben und nachmittags Freunde und Familie treffen. Doch es ist Krieg. Immer noch. Ein Krieg, der ihn zu einer lebensbedrohlichen Flucht mit seiner Familie zwang. Erst in den Irak und dann, neuerlich bedroht von Terror, mit dem Schiff, zu Fuß, dem Bus und der Bahn durch sieben Länder bis nach Deutschland.
2013 traf Youssef Abdulmajid im östlichen Zipfel von Syrien, umgeben von der Türkei im Norden und dem Irak im Süden, eine Entscheidung. Es war die Entscheidung zum Beginn einer „lebensbedrohlichen Reise“, mit seiner Familie.
Das bedeutet: Seine Frau, die Tochter und die zwei Söhne lassen ihre Heimat hinter sich. Ihre Wohnung, die eigene Arztpraxis, Freunde und Familie. Aber auch: Jahrelange Unterdrückung als kurdische Minderheit, die ihre eigene Sprache nicht sprechen darf, Krieg, Terror, Zerstörung und tägliche lebensbedrohliche Situationen. „Ich habe Bilder aus dem zweiten Weltkrieg gesehen. Vom völlig zerstörten Berlin. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas bei uns passieren könnte. Das ist eine Katastrophe“ berichtet er...
Das bedeutet: Seine Frau, die Tochter und die zwei Söhne lassen ihre Heimat hinter sich. Ihre Wohnung, die eigene Arztpraxis, Freunde und Familie. Aber auch: Jahrelange Unterdrückung als kurdische Minderheit, die ihre eigene Sprache nicht sprechen darf, Krieg, Terror, Zerstörung und tägliche lebensbedrohliche Situationen. „Ich habe Bilder aus dem zweiten Weltkrieg gesehen. Vom völlig zerstörten Berlin. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas bei uns passieren könnte. Das ist eine Katastrophe“ berichtet er.
Die erste Station ist der nahe Irak. Nur kurz, so glaubt die Familie. Noch trägt sie die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Kriegs. Youssef Abdulmajid findet wieder eine Stelle als Arzt, es existiert eine kleine, kurze Normalität. Doch schon zwei Jahre später zieht der Krieg immer weitere Kreise. Seine Auswirkungen erfassen die ganze Region. Im Irak terrorisiert nun der IS die Menschen, die hier eigentlich Zuflucht suchen. Wieder droht Gefahr für die gerade erst Geflohenen. Später wird der dreifache Vater sagen: „Sicherheit ist das Wichtigste im ganzen Leben.“. Ein Ziel, das er in Europa ausmacht. Doch jetzt, 2015, müssen sie wieder fliehen. Schnell. Zunächst nach Istanbul, Türkei.
Das Geschäft mit dem Leid
Schleuser organisieren den ersten Transfer. Es ist ein alltägliches und schmutziges Nebengeschäft des Krieges. Auf Kosten der Menschen, die keine andere Möglichkeit mehr haben, als sich auf diese „Geschäfte“ einzulassen. Wer weniger zahlen kann, bekommt weniger sichere Passagen. So einfach ist das.
In der Türkei geht es weiter: 2.500 Euro muss Abdulmajid zahlen. Für jedes Familienmitglied. Was er dafür bekommen soll: Eine Fahrt zur Küste, eine Bootsfahrt auf einem angeblich sicheren Schiff aus Holz statt aus Gummi und damit die Passage zur griechischen Insel Lesbos.
Als sie nachts mit dem völlig überfüllten Bus in einem Fluss steckenbleiben und trotz Angst vor Milizionären aussteigen und schieben, wissen sie noch nicht, dass diese Verspätung ihr Leben retten wird. Zurück im Bus können die Kinder den Boden nicht berühren, so dicht gedrängt quetschen sich die Menschen in den Innenraum.
Am Ufer angekommen ist das Boot schon weg. Erst später werden sie erfahren, dass das mit 500 Menschen völlig überladene Boot auf der Überfahrt auseinandergebrochen ist. Über 150 Menschen, Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder ertrinken. Darunter entfernte Familienmitglieder von Youssef Abdulmajid. Hinter jeder Zahl, die abendlich über unsere Fernsehnachrichten flimmert, steckt solch ein Schicksal. Es birgt eine so ungeheuerliche Grausamkeit, die vor den Küsten Europas täglich geschieht, dass man fast schon Verständnis aufbringt, dass die Verantwortung gerne abgegeben wird.
„Eine Minute wird zur Stunde voller Angst“
Die syrische Familie besteigt das Boot. Dieses Mal werden „nur“ 200 Menschen auf das Boot gepfercht. Ausgelegt ist es für 20 bis 30. Erschöpft fallen Kinder auf dem Boden sofort in den Schlaf. Die Überfahrt dauert nur eine knappe Stunde. Doch die Zeit scheint endlos und ist erfüllt von Angst. „Eine Minute wird zur Stunde, die voller Angst ist“, berichtet uns der syrische Arzt in unserem Gespräch.
Anders als das Boot zuvor kommen sie auf Lesbos an. Youssef Abdulmajid hat uns Fotos mitgebracht. Viele sind es nicht. Es gab kaum Strom auf der Überfahrt, dafür aber Wichtigeres als die Dokumentation. Wir müssen jedes Gesicht verpixeln. Zu groß die gut begründete Sorge, dass im Heimatland die Geheimdienste genau solche Fotos nutzen, um sich stellvertretend an zurückgebliebene Nachbarn, Familienmitgliedern und Freunden zu rächen.
Nach zwei Tagen Warten bringt ein nun sicheres Boot die Geflüchteten auf das griechische Festland. Es stehen an: Registrierung und die Erstellung von Papieren für den weiteren Fluchtweg. Ein Prozedere, das sich in den nächsten Wochen noch häufig widerholen wird. In 15 Tagen durchquert die Familie Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich und erreicht schließlich Deutschland. Oft zu Fuß, manchmal mit dem Bus, seltener mit dem Zug. Geschlafen wird auf der Straße. Sie treffen auch auf Menschen, die ihnen helfen. Mit Verpflegung, sanitärer Ausrüstung und weiter Unterstützung. Ob es Einzelpersonen, Organisationen oder staatliche Institutionen sind, lässt sich kaum auseinanderhalten.
„Nichts ist wichtiger als Sicherheit“
Dennoch: „Sicher“ ist der Weg auch in Europa nicht. Viele Menschen werden ausgeraubt. In Serbien ist es am Schlimmsten: Die Behörden lassen die entkräftige Gruppe zwölf Stunden auf einer Straße stehen. Ein Wegbewegen ist untersagt. Es gibt nichts zu essen, nichts zu trinken. Es sind vor allem Kinder und Frauen, die ihn Ohnmacht fallen. „Das war furchtbar, ich kann diesen Tag nicht mehr vergessen“. Und wer dabei in das Gesicht von Youssef Abdulmajid schaut, sieht den Schmerz dieser Erinnerung. Dennoch fügt er gleich an: „Vielleicht kann ich jetzt wieder weitermachen. Und auch diesen Menschen nun helfen“.
Das möchte Youssef auch mit dem Erzählen dieser Geschichte erreichen. Alle sollen erfahren, was und vor allem wer hinter den Zahlen steckt, wenn wieder ein Boot kentert, wenn wieder von x Toten gesprochen wird. An den Grenzen des Europas, in dem wir uns unserer Werte so sicher sind. Sein Bericht ist auch ein Geschenk für uns. Denn er zeigt das unschätzbar hohe Gut, das wir in Europa genießen dürfen: Sicherheit. Freiheit. Demokratie. „Nichts ist wichtiger als Sicherheit“, sagt er wieder und nicht zum letzten Mal.
Was sagt er dazu, wenn Menschen derzeit auf Demos von einer „Diktatur“ in Deutschland sprechen? Er schüttelt den Kopf. Jemand der als Kurde jahrzehntelang unterdrückt wurde, der seine Sprache nicht sprechen durfte, der Bombeneinschläge von Flugzeugen und Explosionen von Selbstmordattentätern erlebt hat, der mit seiner Familie Schutz suchte und Terror erfuhr, jemand, der das alles erlebt hat, kann das nicht verstehen. Aber er möchte uns warnen: Wir sollen uns unserer Geschichte bewusst sein, was alles passieren kann und wie schnell es geht. Wir sollten die „Regelungen“ schätzen, die unsere Demokratie ausmachen.
Die Zusammenhänge sind größer
Es zeugt von besonderer Stärke und Souveränität, wenn so jemand plötzlich von „Miteinander“ und Frieden spricht. Denn der Krieg ist nur das kleine Symptom eines großen Geschäfts, weiß Youssef Abdulmajid. Die „großen Spieler“ wie er sie nennt, sind im Hintergrund.
Da sind zum Beispiel die Waffenfirmen, für die der Krieg eine große „Shoppingtour“ ist: „Sie fragen nicht, wie viele Leute getötet werden, sondern wie viel Geld sich damit verdienen lässt. Wir müssen herausfinden, welche Gründe hinter der Flucht stecken. Bei mir war der Krieg der Grund dafür, dass ich meine Heimat verloren habe und ich mich auf diese lebensbedrohliche Reise begeben habe. Das setzt auch die Länder unter Druck, die helfen, das verstehe ich.“
Die Welt zur Lösung aufgerufen
Die ganze Welt sei deswegen dazu aufgerufen, eine gemeinsame Lösung zu finden. Viele Menschen sind ertrunken und ertrinken noch immer, Familien sind getrennt, Ländern sind geteilt. „Wenn wir diesen Menschen helfen wollen, müssen wir in einer Zusammenarbeit eine gemeinsame internationale Antwort von Menschen, Organisationen und Staaten finden. Nicht nur ein paar Personen, sondern alle. Ich möchte nie wieder das erleben, was in Syrien, Irak und auf der Flucht passiert ist. Allen Menschen in solchen Situationen muss international mehr geholfen werde. Denn was ich erlebt habe, soll niemanden auf der Welt passieren müssen. Diese Menschen brauchen Hilfe. Wirklich."
Hintergrund:
Youssef Abdulmajid begab sich gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern 2013 auf die Flucht vor dem Krieg in Syrien. Zwei Jahre war er im Irak, bevor er auch dort vor dem IS fliehen musste. Mittlerweile lebt er sicher in Bochum. Derzeit absolviert er eine Hospitanz in einem Bochumer Krankenhaus. Seiner Familie geht es körperlich gut.
Das Interview führte Sven Focken-Kremer, der als Leiter der Kommunikation in der GLS Treuhand arbeitet.
Gemeinsam helfen, gemeinsam ändern!
Hintergrundinformationen
Foto: Sea-Watch, Rechte: Sea-Watch