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"Es gibt keinen Mangel" - Interview mit Maria Welz, Leben ist Fülle e.V.

09.08.2024

Der Verein Leben ist Fülle aus München ist im Juli 2024 ein Jahr alt geworden. Die GLS Treuhand unterstützte ihn und die Gründerin Maria Welz kurz nach der Entstehung und ist nun neugierig, wie sich das Engagement in der Stadt entwickelt.


Liebe Frau Welz, wie kam es überhaupt zur Vereinsgründung und hat auch damit Ihre gemeinnützige Arbeit angefangen?

Meine gemeinnützige Arbeit geht bis in meine Kindheit zurück. Ich habe mich viel um meine jüngeren Geschwister und Aussiedlerkinder, damals Russlanddeutsche aus Kasachstan, gekümmert. Aus der Zeit stammte auch mein Wunsch, Slawistik zu studieren. Ich stamme aus einem kleinen Dorf und bin wegen Russisch in die Großstadt München gezogen. Meine Mutter ist über 80 und arbeitet heute noch in mehreren Gemeinden als Organistin. Mit ihr haben wir zu meiner Grundschulzeit immer Basare mit selbst gemachten Weihnachtskunstwerken veranstaltet und den Reinerlös den Benediktinern auf den Philippinen gespendet.

Das Interesse an übrig gebliebenen Lebensmitteln und wie man damit die Welt verändern kann, entstand bei mir zur Zeit der Anfänge von Foodsharing vor ca. zehn Jahren. Irgendwann sind so viele Menschen zu mir gekommen, dass ich wusste: Ich brauche jetzt einen bürokratischen Rahmen für das Ganze, und so ist der Verein entstanden.

Maria Welz begrüßt Menschen, die sich Lebensmittel abholen | Foto: Leben ist Fülle e.V.


Eigentlich unfassbar, dass in einer Stadt wie München gleichzeitig Tonnen an Lebensmitteln pro Tag weggeworfen werden und Menschen sich nicht genug Lebensmittel leisten können. Wie erleben Sie die Stadt und gibt es genug Supermärkte etc., die sich auf Ihre Aktionen einlassen?

In Sachen Lebensmittelverschwendung sehe ich in München auf der Einzelhandels- und Verbraucherebene einen großen Bewusstseinswandel. Vor ein paar Jahren war es noch undenkbar, dass Aldi, Edeka und Co. mit foodsharing e.V., den Lebensmittelrettern oder eben mir zusammenarbeiten. Es gab die Tafeln und das war es.

Tatsächlich sind die Arbeitsweisen der einzelnen Organisationen recht unterschiedlich. Die Tafel etwa nimmt nur Lebensmittel an, die laut Mindesthaltbarkeitsdatum noch nicht abgelaufen sind. Aber beim Foodsharing geht es darum, Lebensmittel unabhängig davon zu prüfen und zu verbrauchen, wenn sie noch gut sind. Bei einigen Konzepten ist viel Bürokratie im Spiel. Dass es einfacher und flexibler geht, zeigen zum Beispiel die Community Kitchen, bei der ich auch als Supply Chain Managerin gearbeitet habe oder eben der Verein Leben ist Fülle. Wir holen auch Ware über MHD ab und haben immer ein Herz für den armen Nachbarn nebenan. Wartelisten gibt es nicht – jeder kann sofort mitmachen. Die Erfahrenen schulen die Neuen. Jeder ist unendlich wertvoll, eine strenge Hierarchie gibt es bei uns nicht.

Die Supermärkte freuen sich sehr, dass es uns gibt: Sie sehen, wie viel Müll sie auf einmal einsparen, bis zu 80 Prozent. Und ohne, dass wir sie belehren, beginnen sie plötzlich mit der Mülltrennung, was nicht unbedingt im hektischen Supermarktalltag selbstverständlich ist.

Meine Vereinsarbeit hat aber noch ein weiteres Standbein: Die Verteilung von Palettenwaren, die direkt von den Herstellern kommen: Ganze LKWs bekomme ich angeboten, die sonst im Müll landen würden. Die Großverteilungen sind organisatorisch aufwändig und kosten mich viele Stunden Zeit, aber andererseits: Mit 20 Paletten Hafermilch können 1.000 Menschen ein halbes Jahr lang leckeren Barista-Cappuccino genießen, den sie sich sonst nicht leisten könnten.

Das Team vom Leben ist Fülle e.V. bereitet die Verteilaktionen gemeinsam vor | Foto: Leben ist Fülle e.V.


Sind die Menschen, die Sie unterstützen, wunschlos glücklich, wenn sie sich mit zusätzlichen Lebensmitteln versorgen können oder merken Sie im Austausch, dass es noch weitere „Baustellen“ gibt?

Die meisten freuen sich ohne Ende über diese „zusätzlichen“ Lebensmittel, Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel. Zusätzlich in Anführungszeichen, weil es für etliche Menschen die einzigen Lebensmittel sind. Nicht jeder hat Zugang zur Tafel. Die Menschen schreiben mir Liebesbriefe und erzählen mir von ihren Notlagen. Eine Baustelle gesellt sich meist zur anderen: Kein Geld trotz Arbeit, noch keine Deutschkenntnisse, alleinerziehend, und paradoxerweise haben viele Arme Übergewicht: Weil sie sich nichts Gesundes leisten können, oder aber aufgrund ihrer Lage depressiv und passiv geworden sind – da beißt sich die Katze in den Schwanz. So bin ich auf das Sportprogramm Wellpass gekommen, das die Menschen mit Begeisterung annehmen. Das unschlagbar preiswerte Angebot für unzählige Yoga- und Sportstudios (allein in München sind es mehr als 400) durchbricht diesen Teufelskreis.

Wenn alles gut läuft – wie soll sich Ihr Verein weiterentwickeln?

Zuerst möchte ich dankbar sein für alles, was sich innerhalb eines Jahres alles entwickelt hat Ihnen danke ich, dass Sie etwas über meinen Verein schreiben möchten, ganz nach dem Motto: Tue Gutes und rede darüber. Je mehr Menschen, Stiftungen und Firmen von mir erfahren, desto größer die Chance, dass die Spendenbasis auf sichere Füße kommt. Je mehr Spenden ich bekomme, desto mehr kann ich bewirken. Denn Lebensmittel, die weggeworfen werden würden und Hilfsbedürftige, die sich darüber freuen, gibt es in Hülle und Fülle. Denn „den Mangel“ – das habe ich nach all meinen Erfahrungen gelernt – gibt es nicht.

Darüber hinaus denke ich darüber nach, was ich noch besser machen kann, oder was meine Helferinnen und Helfer brauchen, um weiter inspiriert und motiviert zu sein. Ich arbeite stetig daran und möchte von Jahr zu Jahr mehr bewirken.

Und zum Schluss: Was ist Ihr Wunsch für eine lebenswertere und gerechtere Stadt?

Insgesamt finde ich München schon sehr lebenswert: Wir haben 400 Fitness- und Yogastudios, man ist in einer Stunde mit den Öffentlichen in den Bergen, das Kultur- und Bildungsangebot ist enorm, und Arbeit gibt es auch ohne Ende. Die Schattenseite ist der extreme Wohnungsmarkt. Kaum jemand hat eine Chance, günstig zu wohnen und das ist ein sehr altes Problem. Hier würde ich mir einen Wandel wünschen. Ebenfalls bei der Verkehrsplanung: Wir ersticken im Verkehr, der Umbau zur fahrradfreundlichen Stadt wird gebremst von jahrelangen Machbarkeitsstudien: Einfach mal so wie wir bei Leben ist Fülle e.V.: Neues ausprobieren, dann sehen wir schon.

Lebensmittel-Verteilaktion | Foto: Leben ist Fülle e.V.

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